Johann Wolfgang von Goethe - (1749-1832)


Mignon

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn,
ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht -
kennst du es wohl?
     Dahin, dahin
möcht' ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
was hat man dir, du armes Kind, getan? -
Kennst du es wohl?
     Dahin, dahin
möcht' ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
es stürzt der Fels und über ihn die Flut -
kennst du ihn wohl?
     Dahin, dahin
geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!


An Charlotte von Stein

Gewiß, I wäre schon so ferne, ferne
Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen,
Bezwängen mich nicht übermächt'ge Sterne
Die mein Geschick an Deines angehangen
Daß ich nun erst in Dir mich kennenlerne.
Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach Dir und Deinem Wesen drängt.
Mein Leben nur an Deinem Leben hängt.


Am Spinnrad

Meine Ruh' ist hin
mein Herz ist schwer;
ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Wo ich ihn nicht hab',
ist mir das Grab,
die ganze Welt
ist mir vergällt.

Mein armer Kopf
ist mir verrückt,
mein armer Sinn
ist mir zerstückt.

Meine Ruh' ist hin
mein Herz ist schwer;
ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Nach ihm nur schau' ich
zum Fenster hinaus,
nach ihm nur geh' ich
aus dem Haus.

Sein hoher Gang,
sein' edle Gestalt,
seines Mundes Lächeln,
seiner Augen Gewalt,

und seiner Rede
Zauberfluß,
sein Händedruck,
und ach, sein Kuß!

Meine Ruh' ist hin
mein Herz ist schwer;
ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Mein Busen drängt
sich nach ihm hin;
Ach dürft' ich fassen
und halten ihn

und küssen ihn,
so wie ich wollt',
an seinen Küssen
vergehen sollt'!